Achtsam leben.

Immer mehr Menschen suchen in einem Zeitalter der Reizüberflutung und Hektik Momente der Ruhe. Sie wollen achtsamer leben.

Morgens einen Kaffee im Stehen, mittags einen Snack auf die Hand, abends Training im Fitnessstudio und zwischendrin immer ein Auge auf dem Computerbildschirm und eines auf dem Smartphone. So sieht der Alltag vieler Menschen aus. Egal, ob beruflich oder privat, sie haben immer Termine, sind immer online, immer beschäftigt. Ruhe macht sie nervös oder langweilt sie.

Das ist das eine Phänomen unserer Zeit. Die Gegenbewegung heißt Achtsamkeit. Oder Mindfulness, wie der aus dem Englischen adaptierte Begriff lautet. Für das Zukunftsinstitut in Frankfurt ein sogenannter Megatrend. Also keine kurzlebige Mode, sondern etwas, das die Welt nachhaltig beeinflussen wird. „Achtsamkeit heißt: In einer überfüllten, überreizten, überkomplexen Welt müssen wir lernen, uns auf neue Weise auf uns selbst zu besinnen.“ So definieren es die Zukunftsforscher in ihrem Trenddossier.

„Achtsamkeit lehrt uns,
in den Problemen die Lösungen zu sehen.“

Matthias Horx, Zukunftsforscher

Auswirkungen hat dieser „Mindshift“, also dieses Umdenken, auf den einzelnen Menschen, die ganze Gesellschaft, die Wirtschaft. Es geht um den Umgang miteinander, mit der Umwelt, um Werte, Haltung, (soziale) Verantwortung und Sinnfindung. Es geht um bewusstes Leben und Arbeiten. Es geht aber auch darum, die Dinge einfach mal stehen zu lassen, nicht zu bewerten. „Kurz innehalten, dann handeln“, so nennt Meditationslehrerin und Businesscoach Prof. Dr. Angela Geissler aus Stuttgart dieses Prinzip.

„Wir sind selten dort, wo unser Körper ist. Meist sind wir mit den Gedanken schon weit weg, das erzeugt Stress. Achtsamkeit öffnet die Tür für neue Perspektiven“, erläutert Angela Geissler. „Es bedeutet, wach und aufmerksam wahrnehmen, was gerade in diesem Augenblick geschieht. Den Körper, Gedanken, Gefühle, die Umwelt wahrnehmen.“ Klingt simpel. Der Versuch zeigt, dass wir sofort beginnen einzuordnen und zu bewerten. Zum Beispiel ein Geräusch. Wir denken, das ist ein Auto oder Lärm. Wir können nicht einfach nur die Schwingungen wahrnehmen. „In den kleinen Momenten, in denen es gelingt, die Dinge einfach mal nur stehen zu lassen, öffnet sich ein Raum für neue Ideen, eine andere Sichtweise, mehr Gelassenheit“, sagt Angela Geissler. Achtsamkeit habe nichts mit „du musst jetzt“, sondern etwas mit Innehalten zu tun, den Moment und damit sich selbst wahrzunehmen. Wer Yoga macht, kennt diese Momente und erlebt eine ganz grundlegende Beruhigung und Entschleunigung.

„Achtsamkeit schließt
andere immer mit ein.“

Prof. Dr. Angela Geissler, Ärztin und Meditationslehrerin

Wie kann man Achtsamkeit
erlernen?

Achtsamkeit ist eng mit den klassischen Übungen der Meditation verbunden.
„Am besten sucht man sich eine Gruppe, einen Workshop, ein Seminar, um eine erste Anleitung zu erhalten“, rät Angela Geissler. In einer solchen Übungssituation wird viel deutlicher, wie schwer es uns fällt, die Dinge zunächst einfach nur aufmerksam zu betrachten, wahrzunehmen und zu spüren. Ohne eine solche Erfahrung und die regelmäßige Übung ist es sehr schwer, achtsam zu sein. „Ich konnte es selbst nicht glauben, als ich es zum ersten Mal erlebt habe. Es geht tatsächlich darum, es selbst zu erfahren. Das ist schwierig zu beschreiben. Und auch nicht aus Büchern zu lernen.“

Welche Rolle spielt Achtsamkeit beim Essen und Trinken?

Achtsamkeit ist die Mutter des wahren Genusses, ist Angela Geissler überzeugt. Sind wir beim Essen völlig von Geruch und Geschmack der Speisen eingenommen, ist dies eine wunderbare Erfahrung. Einfach nur essen, einfach nur genießen. „Nebenwirkungen sind häufig, dass zum ersten Mal klar wird, wie geschmacklos manche Speisen sind, die wir in uns hineinstopfen. Eine vielleicht überraschende weitere Wirkung ist, dass wir plötzlich wieder spüren, wann wir genug gegessen haben.“ Mindful Eating heißt, sich darüber klar zu werden: Was tue ich gerade? Was treibt mich, weiterzuessen, obwohl ich eigentlich satt bin? Menschen essen auf einmal weniger, sie rauchen weniger, sie trinken weniger – dies aber mit mehr Freude.

Was hat Yoga damit zu tun?

Die Idee der Achtsamkeit ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Sie geht auf den Gründer des Buddhismus Siddhartha Gautama zurück, der bereits 500 Jahre vor Christus Achtsamkeitsübungen lehrte. Deshalb verbinden die meisten Menschen den Begriff mit Yoga. Das ist sicherlich eine Art, Achtsamkeit zu lernen. Aber kein Zwang. Das Wort Mindfulness enthält „mind“ (Bewusstsein). Es geht nicht um Turnübungen. Sondern darum, wie wir denken, urteilen, handeln oder eben nicht. Yoga und Zen-Meditation können jedoch durchaus ein Weg sein, die von Prof. Geissler beschriebenen „neuen Perspektiven“ erkennen zu lernen.

Während die Wissenschaftler Definitionen suchen, Coaches Anleitung geben und seit Langem auch christliche Klöster fernöstliche Meditation lehren, gibt es Menschen, die einfach achtsam sind. Ganz ohne Yogakurs und Fachliteratur. Sie verwenden das Wort Achtsamkeit nicht einmal. Aber sie leben und handeln danach. Sind im Hier und Jetzt.

Eine kleine Achtsamkeits-Übung

Eine wunderbare kleine Übung ist es, einmal nur Zähne zu putzen. Versuche, an nichts zu denken. Mache zwei oder drei bewusste Atemzüge, spüre den Atem durch den Körper ziehen. Dann putze deine Zähne. Die Zahncreme spüren, riechen, schmecken. Die Bürste auf dem Zahnfleisch wahrnehmen. Vielleicht das Surren der elektrischen Zahnbürste hören. Wenn Gedanken aufkommen, sich Geschichten einfinden, Emotionen und Widerstände auftauchen, zurück zum Augenblick. Nur Zähne putzen. Wenn dies gar nicht gelingt, stelle dich auf ein Bein und putze weiter. Nach dieser kleinen Übung fängt der Tag etwas gelassener und kraftvoller an. Eine tägliche Minipause zum Auftanken.

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